China gegen den Rest der Welt

Da sage keiner, dass sei übertrieben. Ich weiß noch andere Titel, heftiger, die ebenfalls ausdrücken würden, was hier in den letzten Wochen deutlich wurde. Seit Jahren, seit klar war, dass er-ling-ling-ba (2008) die Olympiade in Beijing stattfindet, wurden alle, die sportlich besonders befähigt waren, in China zu Höchstleistungen aufgebaut. Jeder in China wusste: wir sind die Besten! Und so gingen alle davon aus, dass man mehr oder minder alle Goldmedaillen einsammelt – selbst bei den Paralympics, obwohl man doch in den Jahrzehnten zuvor die behinderten Kinder einfach auf der Straße aussetzte oder sie versteckte.

Doch – womit keiner hier gerechnet hatte – es gab auch noch andere Höchstleistungssportler. Und: auch Chinesen haben Nerven und sind verwundbar.

So trug ein ganzes Volk  Trauer, als der Hürdenläufer Liu verletzt ausschied. Er war zuvor einer der absoluten Volkshelden. Nicht nur im Fernsehen sah man Tränen – beim Trainer des Ausnahmesportlers. Und auch manch anderer, der nur Silber oder Bronze gewann, kämpfte mit den Tränen der Trauer und der Scham. Ob die wohl alle hinterher ordentlich Selbstkritik üben mussten?

Aber das Tollste im chinesischen Fernsehen waren die Zusammenfassungen verlorengegangener Matches in Ballsportarten. Da wurden dann doch tatsächlich nur die guten Aktionen der unterlegenen Chinesen und die schlecht ausgegangenen Spielzüge ihrer letztendlich gewinnenden Gegner gezeigt. Jetzt weiß ich, wie Geschichtsfälschung und Gehirnwäsche funktionieren.

Bei den Paralympics waren wir ja mehrfach zugegen und machten sehr verschiedene Erfahrungen. Zunächst einmal war das Birds Nest völlig überfüllt und die chinesische Methode des Vordrängelns – irgendwie kriege ich schon einen Platz in der ersten Reihe – wurde von Tausenden gleichzeitig über Stunden hinweg versucht. Das allein nervte schon gewaltig. Aber was ich viel schlimmer fand, war der selektive Beifallssturm.

Wenn in der Wettkampftruppe eine Chinesin oder ein Chinese mitmachte, tobte und schrie und klatschte die Menge, ganz gleich, ob China gewann oder auf dem letzten Platz landete. War das aber nicht der Fall, so schwieg man sich aus, egal ob Weltrekorde gebrochen wurden oder unglaubliche Leistungen gezeigt wurden. Und es waren wirklich großartige Sportler und Sportlerinnen, unter anderem eine Goldmedaillengewinnerin aus Leverkusen, denen wir zusehen konnten und die wir auch heftig beklatschten. An diesem Tag habe ich sogar für einen Iraner Beifall geklatscht, damit der überhaupt was hörte bei seiner Siegerehrung, die direkt vor unserer Nase stattfand.

Als einige Tage später die iranische Herrenmannschaft im Sitzvolleyball die Goldmedaille errang, war allerdings alles ganz anders. Die Halle war gut gefüllt, mit vielen Chinesen, aber auch Iranern und Bosniern und einigen anderen Langnasen. Die Chinesen ließen sich begeistert mitreißen, für eine der Mannschaften zu jubeln und so machte das Zusehen wirklich Spaß. Und spannend war es auch, besonders das Spiel zuvor zwischen Ägypten und Russland um den dritten Platz. Aber diesmal haben wir uns die Siegerehrung erspart. Die anwesenden iranischen Fans waren mindestens genauso nationalistisch wie die Chinesen sonst.

Am besten gefallen haben mir die Rollstuhlbasketballspiele zwischen England, Australien, Canada und den USA. Diese Mannschaften schenkten sich nichts und waren Spitzenklasse. Alle in der Halle waren hellauf begeistert und der Jubel war gerecht verteilt – es spielte ja auch kein Chinese mit.

Ansonsten hätte wieder gegolten: China, China, über alles, über alles in der Welt!

Rekorde

Wir wurden vielfach gefragt, was wir denn alles von der Olympiade gesehen haben.

Leider nicht viel. Denn wir hatten uns viel zu spät um Karten bemüht (nach der Ankunft hier gab es erst mal tausend wichtigere Dinge zu erledigen) und dann war natürlich alles weg. Aber irgendwann wollte ich es nicht mehr hinnehmen, die Olympiade vor der Nase zu haben und nicht einmal live dabei zu sein. Also haben wir auf dem Schwarzmarkt zwei Karten für die Leichtathletik im sogenannten Birds Nest erstanden. Der Preis bleibt mein Geheimnis.

Also zogen Charlotte und ich eines nachmittags los in Richtung Olympiastadion. Es war meine erste Erfahrung mit der Beijinger U-Bahn und die  war ausgesprochen positiv. Natürlich wurde es immer voller, je näher wir dem Olympiagelände kamen, aber das war ja wohl zu erwarten. Und voll heißt in China wirklich voll. Nach einmaligem Umsteigen inklusive Sicherheitskontrolle waren wir in ca. einer Stunde auf dem Olympiagelände. Allein das ist sicher schon einen Besuch wert. Nicht nur das Olympiastadion ist beeindruckend, sondern auch das Schwimmstadion ist sehenswert, besonders nachts, wenn es von innen beleuchtet wird.

Nach einem kleinen Spaziergang über das Olympiagelände waren wir bald im Stadion angekommen. Und der Anblick ist auch von innen atemberaubend. Ein Stadion für 90 000 Menschen, das aber durchaus nicht klotzig oder klobig wirkt, sondern durch geschwungene Formen besticht.  Wir hatten ausgezeichnete Plätze, am Ende der Gegengeraden in Reihe 21, damit nah genug an der“Aschen“-Bahn und doch etwas erhöht, so dass man die Rasenfläche gut übersehen konnte. Da wir ca. eine Stunde vor dem offiziellen Beginn im Stadion waren, blieb auch ausreichend Zeit uns umzusehen und das Ambiente zu genießen. Auf einen Hinweis der Ordner hin (!) konnten wir uns auch noch rechtzeitig mit Getränken usw. versorgen – und das zu sehr zivilen Kosten und nicht zu den Wucherpreisen, die ich aus Deutschland bei solchen Gelegenheiten gewohnt bin.

Gesehen haben wir an diesem Abend den Weitsprung der Frauen, das Ende des Zehnkampfes inklusive des Marathons der Zehnkämpfer, also den abschließenden 1500m Lauf, mehrere Staffellaeufe wobei wir einen Wechsel der 4×100 m Laeufer(innen) direkt vor uns hatten, die 5000 m der Frauen und den Stabhochsprung der Maenner.

Es gab Tränen verschiedenster Art an diesem Abend: Tränen der Enttaeuschung der 4×100 m Frauen aus Jamaika, die alsTopfavoriten ihren Staffelstab verloren. Das passierte an dem Wechsel vor uns, so dass wir das Drama hautnah miterleben konnten. Aber auch Traenen der Freude von der brasilianischen Weitsprung-Siegerin, die wohl ziemlich ueberraschend gewonnen hat.

Rekorde gab es auch. Einen olympischen Rekord durch den australischen Goldmedaillengewinner im Stabhochsprung. Und das nach einem echten Krimi. Er hatte die Goldmedaille bereits sicher, wollte aber den olympischen Rekord brechen. Er scheitert im ersten Versuch. Danach lässt er die Zeit für den zweiten Versuch verstreichen, um sich wenigsten etwas zu regenerieren. Und schafft dann die Höhe im dritten und letzten Versuch. Das Schoene dabei war, dass die Stabhochsprunganlage direkt vor uns auf der anderen Seite der Aschenbahn aufgebaut war.

Vorher hatten wir bereits einen Weltrekord über 4x100m der Männer erlebt, erzielt durch die Mannschaft aus Jamaika mit dem fabelhaften Usain Bolt.

Ja, wir waren bei Olympia. Aber waren das olympische Spiele, so wir ich sie erwartet hatte? Eigentlich nur zum Teil. Irgendwie fehlte an diesem Abend die Stimmung. Obwohl es ein warmer Sommerabend war und wir außergewöhnliche sportliche Leistungen sahen, kam keine wirkliche Atmosphäre auf. Bemerkenswert ist sicher, dass das chinesische Publikum kaum nicht-chinesische Sportler beklatschte, auch wenn es Ausnahmen gab wie den Stabhochsprung Sieger. Aber wenn ein chinesischer Sportler am Start war, tobte das Publikum. Dabei spielte es auch keine Rolle, ob dieser mit weitem Abstand hinter den anderen hinterher lief. Ich hatte den Eindruck, dass in jedem Block ein Einpeitscher sass, der die Sprechchöre anstimmte und dafür sorgte, dass diese erst wieder aufhörten wenn der Wettbewerb für den chinesischen Teilnehmer zu Ende war. Mir persönlich hat dies die Stimmung an diesem Abend etwas genommen, denn für mich zählt zunächst die persönliche Leistung und aus welchem Land ein Sportler kommt, ist für mich zweitrangig.

Trotzdem hat sich der Besuch bei den olympischen Spielen gelohnt. Es war das Geld wert, dieses „Spektakel“ wenigstens einen Abend hautnah mitzuerleben.